Gaskrise – wie geht es weiter?

Experten-Interview mit Vorstandsvorsitzendem Gert Nowotny

Am 23. Juni 2022 rief Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Gas-Alarmstufe aus. Das ist die zweite von insgesamt drei Eskalationsstufen im sogenannten Notfallplan Gas der Bundesregierung. Mit dieser Ausrufung soll der Ernst der Lage verdeutlicht werden und sie soll die Leute anregen, möglichst viel Energie freiwillig einzusparen. Die erste Stufe, die Frühwarnstufe, galt seit Ende März – ungefähr vier Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, der die Energiepreise in die Höhe getrieben hat.

Vorstandsvorsitzender Gert Nowotny klärt im Experten-Interview über die wichtigsten Fakten und Infos auf.

Robert Habeck hat wie bereits erwähnt, die Alarmstufe im Notfallplan Gas ausgerufen. Was passiert derzeit in Europa im Hinblick auf ein Gasembargo? Ist das nur ein deutsches Problem?

Das ist eine gute Frage. Alles, was wir in den Nachrichten und den Medien nachlesen und hören können bezieht sich im Wesentlichen immer auf Deutschland. Das ist allerdings natürlich ein globales Thema. Einmal auf der Lieferantenseite, denn es gibt ja nicht nur Russland als Gaslieferanten, sondern auch verschiedene andere Länder, die in dieser Situation jetzt besonders gefordert sind. Und auf der Abnehmerseite sind natürlich insbesondere alle europäischen Länder betroffen. Vielleicht kann man das anhand einiger Beispiele verdeutlichen:

Frankreich erhält schon seit mehreren Tagen, vielleicht auch Wochen, kein russisches Gas mehr. Das Land hat allerdings den Vorteil, dass es nur mit ungefähr 17 Prozent von russischem Gas abhängig ist. Im Wesentlichen hängt Frankreich an den norwegischen Leitungen – es gibt eine Hauptleitung, die unter dem Kanal nach Frankreich fließt. Frankreich ist seit jeher ein Stromland: Es betreibt ungefähr 60 Atommeiler. Allerdings sind derzeit 30 davon, also die Hälfte, aktuell nicht am Netz. Die Franzosen haben ein Problem mit den Wartungen in den Leitungen. Das ist sicherlich auch kein einfaches Thema. Jedoch ist Frankreich im Großen und Ganzen jedenfalls nicht ganz so abhängig von russischen Lieferungen.

Im Süden haben die Spanier und Portugiesen mittlerweile auf Regierungsseite einen Preisdeckel für die nächsten zwölf Monate eingeführt, sodass die exorbitanten Gaspreise hier nicht sofort in den Haushalten landen. Natürlich zahlt es am Ende des Tages dennoch die breite Masse, da es solidarisiert wird, wenn der Staat einspringt und Subventionen liefert. Aber insofern hat die Regierung hier die Themen Gasversorgung, Gaseinfuhr und Gaspreise unter ihre Fittiche genommen und steuert das. Auch in Italien sind Gasreduzierungen mittlerweile an der Tagesordnung. Diese Reduzierungen der Importe sorgen natürlich in Rom für die gleiche Nervosität wie in Berlin. Die italienische Regierung sucht inzwischen nach Ersatzlieferungen aus verschiedenen Ländern, denn wie bereits erwähnt gibt es natürlich nicht nur Russland, das Gas exportiert. Dazu gehören zum Beispiel Algerien, Katar, Israel, Aserbaidschan, Angola, Kongo und noch einige weitere Länder. An diesen Stellen versucht Italien nun Verträge zu schließen, sowie auch Robert Habeck in Katar. Natürlich ist es dennoch nicht so, dass nach einem Besuch und Vertragsschluss schon morgen die ersten Kilowatt- oder Megawattstunden Gas geliefert werden. Das sind langfristige Vertragsverhandlungen. Bis da der erste Liter Gas in diesen Leitungen ist, vergeht einiges an Zeit.

Am Ende des Tages kommen wir dann nach Deutschland, insofern ist das ein europäisches Thema. In Deutschland liegt die Abhängigkeit von russischem Gas bei etwa 40 Prozent. Die wichtigsten Leitungen sind hier Nordstream 1 und Nordstream 2, wobei lediglich erstere aktiv ist und die zweitere nicht in Betrieb genommen wurde. Dieser Beschluss wurde bereits vor der Ukraine-Krise gefasst. Wir hängen allerdings nicht nur an russischem Gas, sondern haben noch drei weitere große Lieferanten: Norwegen, Niederlande und Belgien. Großes Thema ist in Deutschland sicherlich, und das hat man über die letzten Jahre wahrscheinlich versäumt, dass wir kaum Alternativen über die genannten Länder hinaus haben. Die Versorgungsinfrastruktur über LNG-Terminals, über die man derzeit überall liest, gibt es in Deutschland nicht. Also wird das in Rotterdam angelandet und dann transformiert nach Deutschland geliefert. Und das ist nochmals mit zusätzlichen Kosten verbunden.

Nord Stream 1 wird seit 11. Juli durch die Gazprom gewartet. Die Gasflüsse liegen deshalb derzeit erstmal bei null Prozent. Das ist gerade jetzt eher ungünstig. Die Wartungsarbeiten sind bis zum 21. Juli vorgesehen. Was bedeutet das für uns und welche Bedenken gibt es?

Wie einleitend richtig gesagt, wird die Nord Stream 1 turnusmäßig jedes Jahr gewartet. Natürlich im Sommer, weil dann weniger Gas durch die Leitungen fließt und kein Heizgas benötigt wird. Insofern ist das eigentlich bisher immer unkritisch gewesen. Bis vor wenigen Tagen wusste kaum jemand, dass diese Leitung um diese Jahreszeit gewartet wird. Mittlerweile könnte sie sogar zum historischen Ereignis für Europa oder Deutschland werden. Die Frage ist nun: Was passiert ab dem 21. Juli, wenn die turnusmäßige Wartung eigentlich beendet sein soll? Da gibt es verschiedene Spekulationen und Szenarien. Ich würde mal damit rechnen, dass sich die Wartungsarbeiten um mehrere Tage, vielleicht auch Wochen, verzögern. Immer leicht begründbar durch beispielsweise fehlende Teile in Zusammenhang mit dem Embargo, das ist nicht nachprüfbar. Wenn die Leitung dann wieder an das Netz geht und wieder befüllt wird, wäre ein weiteres mögliches Szenario, dass dann noch weniger Mengen ankommen als bisher. Vor der Wartung wurde das Volumen bereits auf 40% reduziert gegenüber den Normalmengen. Das Endzeitszenario wäre, dass gar nichts mehr kommt und die Leitung nicht mehr in Betrieb genommen wird. Ich glaube schon, dass dann Deutschland und Europa hier ein großes Thema vor der Brust haben. Man muss ja auch die Speicherbefüllungen mitberücksichtigen, denn diese hätten eigentlich nach dem Stand heute wesentlich weiter sein sollen als sie bisher sind. Die Speicher in Deutschland dürften derzeit ungefähr zu 60 Prozent befüllt sein, müssten aber idealerweise schon bei 70 Prozent sein. Insofern sind die nötigen Reserven nicht aufgebaut worden. Und wenn nun über die Nord Stream 1 nichts mehr kommt und die Alternativen das nicht ausgleichen können – in den USA ist vor wenigen Wochen beispielsweise eine LNG-Plattform explodiert und musste wegen Schäden außer Betrieb genommen werden – dann wird das sicherlich ein Thema hier in Deutschland und in Europa. Da kann man sich ja in etwa ausmalen was dann kommt. Dann wird irgendwann die Notfallstufe drei ausgerufen, welche die Regierung dazu befähigt, Abschaltungen vorzunehmen – und zwar ganz gezielt für unkritische Infrastrukturen. Das hört sich zwar relativ einfach an, ich bin jedoch unsicher, wie hier die praktische Umsetzung aussehen wird, da keine Erfahrungswerte hierzu in Deutschland existieren. Wir spinnen mal ein Szenario: Die Abschaltungen führen dazu, dass in den betroffenen unkritischen Infrastrukturen nicht mehr gearbeitet wird und das führt entweder zu Kurzarbeit oder gar zu Entlassungen. Die Inflation läuft aktuell, Kaufkraftverlust, erheblich steigende Preise für Strom und Gas, für Sprit, für Brot – jede Brezel kostet heute mehr. Das alles führt am Ende des Tages zu einem Konsumeinbruch und hier sollte man sich dann auch ernsthaft Gedanken über die Gefahr von sozialen und inneren Unruhen machen. Man kann das Thema weit spinnen, ich hoffe allerdings, dass wir nicht in diese Ecke kommen. Allerdings muss man beachten, dass das oft eben solche Domino-Effekte sind, die dann entstehen. Und bei einer so hohen Bevölkerungsdichte wie in Europa, wird man erstmal nichts ausschließen wollen. In diesem Sinne: Hoffen wir, dass weltpolitisch schnellstmöglich eingelenkt wird und wir nicht in ein globales Chaos manövriert werden.

Derzeit wird stark diskutiert, ob Unternehmen wie beispielsweise Uniper staatliche Unterstützung erhalten sollen. Wie ist das einzuordnen?

Uniper spielt in Deutschland eine extrem wichtige Rolle, denn es handelt sich um den größten Gasimporteur im Land. Uniper hängt im Wesentlichen am russischen Gas. Um das System zu verstehen, kläre ich kurz über die Rollenverteilung auf: Es gibt den Hauptimporteur Uniper, dieser hat als „Vorversorger“ wiederum Verträge mit sehr vielen Stadtwerken in Deutschland und diese haben wiederum Verträge mit Gewerbe, Industrie und Privathaushalten. Das ist die Prozesskette und daraus leitet sich dann die Preisgestaltung und Versorgung ab. Uniper hat Verträge mit Gazprom zu einem bestimmten Preis abgeschlossen, nehmen wir mal 2 Cent pro Kilowattstunde, und hat anschließend auch mit den Stadtwerken Verträge für Lieferungen in derselben Größenordnung abgeschlossen und ist somit eine Lieferverpflichtung eingegangen. Auf dieser Basis haben die Stadtwerke dann Verträge mit Gewerbe, Industrie und Privathaushalten abgeschlossen.

Hier haben wir also wieder einen Domino-Effekt, wie vorhin bereits erwähnt.

Ganz richtig. Und da nun die Gaslieferungen aus Russland für Uniper entfallen oder erheblich reduziert sind, muss Uniper aufgrund seiner Vertragsverkettungen die Energie trotzdem beschaffen. Wo kauft Uniper diese? An den aktuell möglichen Handelsplätzen – also am Spotmarkt und möglicherweise auch aus anderen Ländern. Aber nicht mehr zu einem Preis von 2 Cent pro Kilowattstunde, sondern zum aktuellen Preis, der sich mittlerweile zwischen 15 und 17 Cent pro Kilowattstunde bewegt. Würde Uniper diese Gasmengen nicht mehr beschaffen, dann wäre alle in der Versorgungskette betroffen und hätten auch kein Gas mehr. Deshalb muss Uniper das Gas kaufen, koste es was es wolle. Uniper ist aber selber nicht mehr in der Lage, die liquiden Mittel dafür aufzubringen, um an den aktuellen Handelsplätzen zu diesen Preisen für diese hohen Gasmengen einzukaufen. Denn hier geht es um etliche Millionen Euro, bei der Höhe der erforderlichen Einkaufsmenge. Damit das ganze System nun nicht zusammenbricht, ist es absolut notwendig, dass die Regierung hier eingreift und sich möglicherweise über Anteile an der Uniper beteiligt oder das Geld zur Verfügung stellt, um die benötigten Gasmengen sicherzustellen. Man spricht hier momentan von ungefähr 30 Millionen Euro pro Tag, die die Regierung Uniper zur Verfügung stellen muss, um das Versorgungsnetzwerk aufrechtzuerhalten. Insofern macht die Regierung hier in meinen Augen alles richtig. Ansonsten würde alles zusammenbrechen und dann komme ich vielleicht wieder zurück auf das Endzeitszenario mit möglicherweise sozialen Unruhen in einem normalerweise sehr gesunden und wohlhabenden Land wie Deutschland.

Der Staat handelt also bereits. Was können Unternehmen in dieser Situation eigenständig tun?

Da gibt es schon ein paar Ansätze, was Unternehmen tun können. Das einfachste, was auch jeder proklamiert, ist natürlich: Energie sparen, Energie sparen, Energie sparen. Das ist sicherlich der erste Schritt. Wobei das in großen Unternehmen natürlich auch nicht einfach ist, aufgrund komplexer Prozesse. Denn da geht es oftmals nicht nur um Heizgas, sondern auch um Wärme- und Kältebehandlungen von Materialien. Ich habe mit vielen Unternehmen Kontakt und erfahren, dass viele beispielsweise noch Hybrid-Brennsysteme besitzen. Das heißt, diese Unternehmen können mehr oder weniger von heute auf morgen auf Heizöl umstellen. Das ist zwar nicht nennenswert günstiger, aber Öl ist zumindest einfach verfügbar. Das machen also einige, denn sie haben noch mehrere 10.000 Liter Tanks auf dem Gelände stehen und befüllen diese mittlerweile. Als Unternehmen geht man natürlich in die Kostenrechnung und fragt sich: Lohnt sich die Weiterführung der Produktionslinie bei diesen Gaspreisen? Das wird also sicherlich zur Abspeckung und Einstellung einzelner Produktionslinien führen. Damit spart man natürlich automatisch zwangsweise Gas ein. In der dritten Stufe des Notfallplan Gas der Bundesregierung gibt es das Auktionsverfahren. Unternehmen kann hier dann der Bundesnetzagentur oder der Regierung mitteilen, wenn sie bestimmte Prozesse einstellen und wieviel Gas sie dabei einsparen, wofür sie ab einem bestimmten Wert eine Prämie erhalten. Da werden sicherlich einige lieber die Prämie nehmen, die Produktion einstellen und somit ihren Gasverbrauch reduzieren. Das hat wiederum möglicherweise wieder Kurzarbeit oder Entlassungen zur Folge. Und dann sind wir wieder bei dem Endzeitszenario, wie wir es zuvor bereits diskutiert hatten. Also insgesamt ein relativ scharfes Schwert, welches man ansetzt.

Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Herr Nowotny. Das wird sicher nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir über dieses Thema sprechen. Wir halten unsere Leserinnen und Leser auf dem Laufenden!

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