Michael Singer über die Entwicklung der Windkraft
Der „Global Wind Day“ ist ein Aktionstag der Windenergiebranche und findet bereits seit 2007 jährlich am 15. Juni statt. An diesem Tag geht es um die Vorteile der Windkraft, ihre Möglichkeiten und Potenziale. In Europa ursprünglich vom Branchenverband „European Wind Energy Association“ eingeführt (Rebranding: WindEurope), wird dieser Aktionstag mittlerweile auch vom „Global Wind Energy Council“ weltweit veranstaltet.
Im Hinblick auf die weltweite Ausnahmesituation an den Energiemärkten der vergangenen Wochen und Monate und das Erreichen der Klimaziele in Deutschland und in Europa, erlangen nachhaltige, regenerative Energiequellen immer mehr Relevanz. Sie schützen das Klima, stellen unbegrenzte Ressourcen dar und sorgen für mehr Energieunabhängigkeit. Die Bundesregierung plant, den Anteil an erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch bis 2030 auf mindestens 80 Prozent zu erhöhen. Bis 2035 soll sogar der gesamte Verbrauch aus erneuerbaren Energien stammen. Damit das gelingt, sind mehr Windkraftanlagen notwendig, die klimafreundlich sind und konventionelle Energieträger langfristig ablösen.
Anlässlich des diesjährigen „Global Wind Day“ erklärt Energie-Experte Michael Singer im Interview die Geschichte und Entwicklung der Windkraft – von den Anfängen über Hürden bis hin zu großen Zukunftschancen.
Beginnen wir mit den Basics. Michael, wie wird aus Wind eigentlich Energie?
Hierzu bediene ich mich an der sehr verständlichen Definition des Umweltbundesamtes: „Windenergieanlagen nutzen den Rohstoff Wind, indem der Rotor der Anlage die Bewegungsenergie des Windes zunächst in mechanische Rotationsenergie umformt. Ein Generator wandelt diese Rotationsenergie dann anschließend in elektrische Energie um.“ Im Prinzip kann man das mit einem Fahrrad-Dynamo vergleichen. Hier wird die Rotationsenergie des Rades, die durch das Treten angetrieben wird, über den Dynamo ebenfalls in elektrische Energie umgewandelt. Entscheidend für den Stromertrag aus einer Windkraftanlage sind die mittlere Windgeschwindigkeit und die Größe der Rotorfläche. Das heißt also, mit zunehmender Höhe vom Boden weht der Wind stärker und auch gleichmäßiger. Das ist sehr wichtig. Im Fazit bedeutet das, je höher die Windenergienanlage ist und je länger die Rotorblätter sind, desto größer ist die elektrische Ausbeute der Anlage.
Der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck räumt dem Ausbau der erneuerbaren Energie eine hohe Priorität ein. Nicht bloß aus Klimaschutzgründen, sondern vor allem auch in der jetzigen Lage für mehr Energieunabhängigkeit in Deutschland und Europa. Die Ziele der Bundesregierung sind hierfür sehr ambitioniert. Es ist wichtig, dass diese gesteckt werden, sie müssen jedoch auch realistisch erreicht werden können. Wie muss in Deinen Augen jetzt gehandelt werden, damit das gelingt?
Wie Du bereits angesprochen hast, war bis zum 24. Februar der einzige Antrieb „nur“ der Klimaschutz. Dieses Datum war in vielen Dingen eine Zäsur. Das war der Tag des Kriegsbeginns in der Ukraine und seitdem hat der Ausbau der erneuerbaren Energien und somit auch der Ausbau der Windenergie auch das Ziel der Energieunabhängigkeit und Versorgungssicherheit. Unabhängigkeit in dem Sinne, dass wir die Energie vor Ort selber erzeugen und nicht von einem Import eines Dritten abhängig sind. Dazu hat die Bundesregierung eine Definition erlassen, dass der Betrieb von erneuerbaren-Energien-Anlagen, und hier auch besonders von Windenergienanlagen, im überragenden öffentlichen Interesse liegt. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter und schreiben fest, dass der Betrieb der öffentlichen Sicherheit dient. Damit kann man eben auch Verfahren beschleunigen und Maßnahmen ergreifen, damit der Ausbau der Erneuerbaren bei verschiedenen Rechtsgütern, die gegeneinander abgewogen werden, einen viel höheren Stellenwert bekommt.
Wie muss man vorgehen? Vor allem müssen Hemmnisse abgebaut werden. Es gibt viel zu viele Hindernisse, die verhindern, dass überhaupt zeitnah eine Windenergieanlage gebaut werden kann. Dazu muss vor allem das Planungs- und Genehmigungsverfahren der Anlagen beschleunigt werden. Hierfür sollen zeitnah neue Gesetze erlassen oder alte Gesetze verändert werden. Geplant war das große Maßnahmenpaket für Juli dieses Jahres. Der Zeitplan wankt jedoch aktuell etwas, da das Justizministerium das ausbremst. Das liegt daran, dass die Öffentlichkeit, die Verbände, die Betroffenen nicht genügend Zeit hatten, um ihren Input in das neue Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Die neuen Gesetze sollen nach aktuellem Stand noch im Sommer erlassen werden. Dort wird dann sogar festgeschrieben, wenn diese Ziele nicht erreicht werden, können beispielsweise Mindestabstandsregelungen zwischen Wohnbebauungen und Windkraftanlagen reduziert oder gar aufgehoben werden und sogar Einschnitte in das Naturschutzrecht vorgenommen werden. Man sieht also schon, dass hier seitens der Bundesregierung Druck gemacht wird, um in Zukunft schneller ausbauen zu können.
Der Ausbau der Windenergie ging in der Vergangenheit nur sehr schleppend voran. Du bist bereits gerade auf die Hemmnisse bisher eingegangen. Woran lag das noch?
Das Hauptproblem waren die langen Genehmigungsverfahren. Man hat zuletzt regelmäßig 6 bis 7 Jahre von der Idee bis zur Baugenehmigung einer Windkraftanlage gebraucht. Das ist im Vergleich für ein Kohle- oder Atomkraftwerk ein Genehmigungszeitraum, der in Ordnung ist. Für eine Windkraftanlage ist das aber viel zu lange. Ein Kohlekraftwerk stellt ein viel größeres Sicherheitsrisiko dar und belastet eben auch viel mehr Mensch und Umwelt. Daher müssen dahingehend natürlich ganz andere, tiefgehende Prüfungen vorgenommen werden als es bei einer Windkraftanlage der Fall ist. Zu diesem Problem der langen Planungs- und Genehmigungsverfahren hat das Umweltbundesamt 2021 eine Studie durchgeführt: Bei den Projektierern, Investoren und Planern der Windkraftanlagen wurde nachgefragt, welche die größten Hindernisse für diese sind, dass Anlagen nicht oder erst sehr spät genehmigt wurden und in Betrieb gegangen sind. An erste Stelle standen artenschutzrechtliche Belange, gefolgt an zweiter Stelle von militärischen Belangen und an dritter Stelle Belange der Luftfahrt, beispielsweise Abstandsregelungen zu Radaranlagen. An letzter Stelle stand die Nichtverfügbarkeit, beziehungsweise kein Zugriff auf entsprechende Flächen.
Das sind nicht ganz unbeachtliche Argumente. Welchen Herausforderungen steht die Windbranche gegenüber, besonders im Hinblick auf den erweiterten Ausbau?
Zunächst müssen selbstverständlich wie bereits erwähnt die Hemmnisse abgebaut werden und auch die Planungs- und Genehmigungsverfahren vereinfacht werden. Der politische Wille hierzu ist ja da. Dann sehe ich aber weitere Herausforderung. Zum einen der Fachkräftemangel in der Produktion und auch in den Unternehmen, die diese Anlagen errichten. Aber auch die beschränkten Kapazitäten, die die Branche ebenfalls in der Produktion hat, kann man nicht schlagartig extrem nach oben skalieren. Vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass nicht nur Deutschland den Ausbau plant, sondern ebenso auch weltweit andere Länder ausbauen wollen. Das heißt, hier kämpft man regelrecht um die entsprechenden Produktionskapazitäten. Eine weitere Herausforderung stellt natürlich auch der aktuell vorherrschende Mangel an Rohstoffen, Halbzeugen und Komponenten. Dieser betrifft bei Weitem nicht nur die Windenergie- und Baubranche, sondern auch andere Branchen. Das prominenteste Beispiel aus den Medien ist wohl die Automobilindustrie. Das sind auf jeden Fall relevante Themen für die Produktion und Errichtung dieser Anlagen. Mir ist es noch wichtig, dass man auch den Netzausbau beachtet. Dieser muss definitiv Schritt halten, denn es nützt nichts, wenn ich die Kapazitäten erhalte, um die Anlagen zu errichten, diese anschließend aber nicht an das Netz anschließen kann. Das war in der Vergangenheit leider auch der Fall. Dass die Netzplanung und der Netzausbau nicht Schritt gehalten haben hat unter anderem auch den Zubau gebremst und sogar dazu geführt, dass sich im Betrieb befindende Anlagen bei Starkwindereignissen gedrosselt und teilweise sogar abgeschaltet werden mussten. Das ist aus zwei Gründen kontraproduktiv: Erstens ist es volkswirtschaftlich nicht sinnvoll. Es wurden Investitionen getätigt und Laufzeiten festgelegt, in der so viel Windenergie wie möglich produziert werden, damit es sich rentiert. Andererseits ist es auch ökologisch nicht sinnvoll. Auch hier gilt: Rohstoffe und Energie werden in den Bau investiert und auch bei einer Windkraftanlage wird natürlich in die Natur eingegriffen. Wir möchten natürlich, dass dieser Eingriff sich lohnt und im Ausgleich möglichst viel CO2-freie erneuerbare Energie produziert wird. Dementsprechend ist der Netzausbau für mich ein ganz wichtiger Punkt. In der Vergangenheit wurden hier leider viel zu oft einzelne Punkte rausgepickt und fortgeschrieben, man hat aber die Wechselwirkung zu anderen Sektoren oder Aufgaben nicht genügend in den Fokus gerückt.
Diese Herausforderungen muss man natürlich angehen und sie dürfen nicht ignoriert werden. Es besteht aber auch ein hohes Potenzial bei der Windenergie. Sonst würde der „Global Wind Day“ nicht existieren und wir beide nicht hier sitzen. Was sind die großen Chancen der Windenergie?
Die großen Chancen bestehen vor allem darin, dass Windkraftanlagen unter den erneuerbaren Energien das größte wirtschaftliche Ausbaupotenzial besitzen. Aber auch die energetische Amortisierung spielt eine wichtige Rolle. Das ist die Zeit, die die Anlage braucht, um so viel Energie zu erzeugen, wie sie beim Bau, bei der Errichtung, dem Betrieb und der Entsorgung benötigt hat – also bis sozusagen wieder eine energetische Null dasteht. Die liegt bei Windkraftanlagen bei sehr kurzen 3 bis 7 Monaten, je nach Standort und Anlage. Im Vergleich dazu ist eine Photovoltaikanlage viel energieintensiver. Das Silicium muss geschmolzen werden – ein sehr energieintensiver Prozess im Verhältnis dazu, wie viel Energie-Ertrag dabei rausgeholt werden kann. Hinzu kommt, dass der Energieträger Wind kostenlos und in Deutschland faktisch unbegrenzt verfügbar ist. Wir haben auf unserer Fläche in Deutschland mehr Wind verfügbar, als wir auf dieser Fläche verbrauchen können. Im Vergleich dazu gibt es beispielsweise bei der Wasserkraft, unabhängig vom gleichwertigen Eingriff in die Natur, eine begrenzte Verfügbarkeit. Selbst wenn wir die Wasserkraft aller Flüsse zu 100% ausnutzen würden, könnten wir nicht so viel Energie erzeugen, wie wir auf der deutschen Fläche verbrauchen können. Das sind also die großen Vorteile des Energieträgers Wind und somit der Windenergie in Deutschland.
Das klingt schon sehr vielversprechend. Wie hoch ist aktuell der Anteil der Windenergie an den erneuerbaren Energien in Deutschland? Wie bewertest Du diese Zahlen?
2021 hatten wir bei Windenergieanlagen Onshore (auf dem Festland) 56 Gigawatt und Offshore (auf See) fast 8 Gigawatt. Das ist eine Verdopplung der Zahlen innerhalb von 10 Jahren. Wie vorhin schon erwähnt, gab es jedoch Hemmnisse beim Zubau. Wenn man sich diese 10 Jahre im Detail ansieht, erkennt man, dass der Ausbau in den letzten 3 Jahren sehr schleppend vorangeschritten ist. Wir haben hier jährlich nur noch 1 bis 2 Gigawatt zugebaut. Das ist relativ wenig, vor allem verglichen mit den Boom-Jahren von 2014 bis 2017, in denen jährlich 5 bis 6 Gigawatt zugebaut wurden. Das ist also teilweise das 6-fache dessen, was wir die letzten Jahre zugebaut haben. Ohne die vergangenen 3 Jahre könnten wir schon deutlich weiter im Ausbau sein.
Wagen wir nach diesem Rückblick nun einen Ausblick in die Zukunft: Wie geht es mit der Windenergie in Deutschland weiter?
In den alten Szenarien und in den aktuell noch gültigen Gesetzen der alten Regierung, also der Großen Koalition bis in den Herbst letzten Jahres, gab es das Ziel 70 bis 80 Gigawatt bis in das Jahr 2030 zu installieren. Davon sind wir nicht mehr weit entfernt und das ist auf jeden Fall auch mit den niedrigen Zubau-Zahlen machbar. Die neue Bundesregierung hat im sogenannten Osterpaket neue Ziele vorgelegt, die in die Verordnungen und Gesetze in den kommenden Monaten überführt werden. Das Ziel wurde hierbei auf 115 Gigawatt angehoben. Das ist eine Verdopplung des aktuellen Wertes in nur 8 Jahren. Mit dem sogenannten 2%-Ziel sollen bis 2030 sogar 165 Gigawatt verfügbar sein. Das bedeutet, zwei Prozent der deutschen Bundesfläche soll durch Windkraft genutzt werden. Kurze Erläuterung, um einordnen zu können, ob das viel oder wenig ist: Aktuell haben wir Windkraftanlagen auf 0,5 Prozent der deutschen Bundesfläche installiert und in den Bebauungs- oder Flächennutzungsplänen sind „nur“ 0,8 Prozent aktuell vorgesehen. Das bedeutet, dass da noch mehr gemacht werden muss. Wie bereits angesprochen, können Regelungen oder Verbote aufgehoben werden, um die Ziele erreichen zu können. Man sieht also auch hier: dem Ausbau wird Priorität eingeräumt. Du hattest anfangs gesagt, dass bis 2030 80% am Stromverbrauch durch erneuerbare Energien abgedeckt werden sollen. Das soll durch Windkraft mit diesen 115 Gigawatt umgesetzt werden. Um diese Verdopplung in den 8 Jahren bis 2030 erreichen zu können, müssten ab sofort jährlich 7 bis 8 Gigawatt zugebaut werden. Das heißt, wir müssen in allen 8 Jahren jedes Jahr mehr zubauen, als wir in den vergangenen Jahren in Spitze geschafft haben. Deshalb meine Skepsis bei der Herausforderung vorhin, dass da der Engpass in der Kapazität der Produktion der Anlage liegt.
Gehen wir soweit, uns das Jahr 2035 anzusehen. Wie sieht es dann Deiner Einschätzung nach aus?
In diesem Osterpaket der neuen Bundesregierung ist vereinbart, dass bis 2035 fast 100% des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien erzeugt werden soll. Im Hinblick auch auf die Alternativen wird dann klar, dass hierbei Windenergie dann an Land, aber auch auf See voraussichtlich den größten Anteil beitragen wird.